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WEST-BERLIN

„Letzter Bahnhof in Berlin West“, das schallte immer aus den Lautsprechern der U-Bahn Linie 6, bevor die Bahn unter das Gebiet Ost-Berlins hinunter rauschte. Es war 1988 und ich fuhr ab und an zum Bahnhof Friedrichstraße, um zollfreie Zigaretten zu kaufen. Der Grenzübergangsbahnhof zwischen Ost- und West-Berlin mit seinen zahlreichen unterirdischen Gängen, Treppen und Räumen, war ein Irrgarten. Hier kreuzten sich Nahverkehrs-Linien, die sonst nur für West-Berliner Fahrgäste erreichbar waren. Auf den Bahnsteigen befanden sich kleine Intershop-Kioske mit zollfreien Waren. Offiziell durften hier nur Grenzgänger einkaufen, aber keiner hat das so richtig kontrolliert.
Dass man in einer Stadt beim Umsteigen am Bahnhof zollfrei einkaufen konnte, war einzigartig und auch ein wenig absurd. Genau wie das widersprüchliche Konstrukt West-Berlin selbst. „Die Insel im Roten Meer“, die mit ihren Sonderstatus offiziell nicht wirklich zur BRD gehörte, auf die aber als „Schaufenster des Westen“ die ganze Welt blickte. Wie war dieses Leben in West-Berlin wirklich? War es die Stadt der Freiheit oder eher eine Stadt des Ausharrens und Abwartens?
Die Fahrt mit der U-Bahn zur Friedrichstraße unter der Ostzone hindurch und das Passieren der zahlreichen Geisterbahnhöfe war an sich schon ein unvergessliches Erlebnis. Die Züge durften nur langsam fahren und es mussten immer zwei Fahrer im Zug sein. Eine Vorsichtsmaßnahme, um technisches oder menschliches Versagen zu minimieren. Würde der Zug stehen bleiben, befände man sich doch unter dem Gebiet eines anderen Landes. Man war immer froh, wenn man wieder unbeschadet im Westen ankam.
In der Tat gehörte auch die Mauer zum Alltag. Eine Freundin lebte direkt am Schlesischen Tor in Kreuzberg und vom Ufer der Spree aus konnte man nach Ost-Berlin blicken, hier verlief die Grenze im Fluss. In einigen Straßen zog sich die Mauer direkt an den Häuserreihen entlang. Doch damit hatte man sich abgefunden. Manchmal bin ich spazieren gegangen und es kam mir so vor, als ob die Mauer nur die Abgrenzung zum Nachbargrundstück wäre und nicht die Grenze zu einem anderen Land. Der Todesstreifen, die Wachtürme oder der Stacheldrahtzaun waren aus der Fußgängerperspektive nicht sichtbar.
Die Inselmentalität der West-Berliner war von einer Mischung aus Gewohnheit, Bequemlichkeit und Isolation geprägt. Der Ausnahmezustand war zur Normalität geworden. Man konnte durchaus ein unbeschwertes und sicheres Leben im Schatten der Mauer führen. Die teure aber größtenteils erfolglose Wirtschaftsförderung schuf eine subventionierte, kleinbürgerliche Idylle. Profitiert haben unter anderem die Bauunternehmen. Vorzeige-Projekte wie das ICC, das Europa Center, das Bikini-Haus und die Hochhäuser am Ernst-Reuter-Platz wurden hingeklotzt.
Nur wenige Straßen entfernt, waren dagegen die prekären Verhältnisse auffällig: marode Infrastruktur, soziale Ungleichheit, ständige Migration. Die städtischen Bereiche in Rand- und Grenzgebietslage verloren immer mehr an Bedeutung und wurden vernachlässigt.
Besonders konnte man das in Kreuzberg spüren. Einst ein Innenstadtbezirk, der durch den Mauerbau an den Stadtrand gedrängt worden war. Das ehemalige Arbeiterviertel mit billigen Wohnungen in schlechtem Zustand zog Studenten, Wehrdienstverweigerer, Künstler oder Lebenskünstler an, die nach alternativen Lebenswegen suchten. Zudem siedelten sich hier viele türkischstämmig Migranten an, sodass der Bezirk den Spitznamen „Klein-Istanbul“ bekam. Eine bunte soziale Mischung die respektvoll und solidarisch koexistierte.
Das Bild der kleinbürgerlichen Idylle erwies sich jedoch trügerisch. Alternative Lebensentwürfe, die Studentenbewegung der 70-er Jahre und diverse Subkulturen haben gezeigt, wie instabil und explosiv dieses Biotop wirklich war. Die Kritik am symbolisch aufgeladenen Image West-Berlins entwickelte Utopien, die zu vielen sozialen und politischen Konflikten führten. Zunehmende Kriminalität, Prostitution und Drogenkonsum malten ein dunkles Bild des Alltags in der Stadt.
Keine Sperrstunde und üppige öffentliche Fördertöpfe ließen in West-Berlin jedoch auch bald eine lebendige und vielfältige Kulturszene erblühen. Internationale Künstler und Musiker, wie David Bowie, Romy Haag oder Nick Cave, aber auch Berliner Originale, wie Brigitte Mira oder Harald Juhnke zählten bald zu den bekanntesten Gesichtern. In unzähligen Nachtclubs, Bars, Szenelokalen lebte man die Freizügigkeit der Stadt aus.
Ich war Student und Migrant, kam selbst aus dem System jenseits der Mauer. Ich war voller Neugier und Begeisterung für die neuen Lebensentwürfe, die hier erprobt wurden. Zwar hat mich meine bürgerliche Erziehung davon abgehalten, mitten in Kreuzberg zu wohnen, doch das Ausgeh- und Szeneleben spielte sich für mich genau hier ab: Das SO36, das Schwuz, das Roses und die vielen kleinen Bars und Kneipen entlang der Oranienstraße bis zum Schlesischen Tor wurden mein Lieblingsgebiet.
Um zu begreifen, dass West-Berlin nicht der „wahre“ Westen ist, habe ich nicht lange gebraucht. Vom existenziellen Druck des harten Kapitalismus war hier wenig zu spüren. Konkurrenzkampf, Leistungsprinzip oder finanzieller Ehrgeiz gehörten nicht unbedingt zum West-Berliner Lifestyle. Stattdessen gab es entspanntes Leben im Schatten der Mauer. Auch wenn ich es nicht geplant hatte, dieses kulturelle und soziale Biotop ist schnell zu meiner Heimat geworden.

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